Brigitte Reimann: Die Denunziantin



„Brigitte springt mir aus jeder Zeile entgegen!“

(Irmgard Weinhofen nach der Lektüre von Brigitte Reimanns "Die Denunziantin" zu Kristina Stella am 23. Oktober 2022)







ERSTAUSGABE 2022

Brigitte Reimann: Die Denunziantin
Mit einem ausführlichen Anhang zur Editionsgeschichte.
Herausgegeben von Kristina Stella. Illustrationen von Jens Lay. Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2022. 377 Seiten. Klappenbroschur € 24.- Print ISBN 978-3-8498-1770-1. E Book ISBN 978-3-8498-1839-5.

„Die Denunziantin“ ist Brigitte Reimanns allererster Roman, mit dem sie – genau wie Siegfried Pitschmann mit seinem verschollen geglaubten, in der DDR verbotenen Roman „Erziehung eines Helden (Aisthesis, 2015) – auf fulminante Weise die literarische Bühne der DDR betreten wollte. „Die Denunziantin“ beweist aus erster Hand, wie Brigitte Reimann vom Sozialismus träumte.
Brigitte Reimann hat die Urfassung der "Denunziantin" 1952 begonnen und 1953 vollendet. Genau dieses Buch, ihr erster Roman, sollte ihr denkwürdiger Schritt auf die literarische Bühne werden, doch das misslang. Die DDR-Verlage druckten ihn nicht. Zu individualistisch, zu schillernd sei die Hauptperson der Eva Hennig geraten; schlicht einer überzeugten sozialistischen Heldin nicht würdig, lautete eine der vielen Begründungen.
Die jetzt vorliegende Erstausgabe ist jene Urfassung, die Brigitte Reimann selbst am meisten am Herzen lag. Sie ist authentisch in Sprache, Stil und politischer Einstellung der damals überzeugten FDJlerin und Neulehrerin und gleichzeitig ein aufschlussreiches Zeitdokument zum DDR-Alltag der 1950er Jahre und zur frühesten Schaffensphase der Autorin.
Fast wäre der Roman in den Archiv-Schubladen der Literaturgeschichte vergessen worden. Aber nur fast.

„Die Denunziantin“ is Brigitte Reimanns very first novel, with which she – just like Siegfried Pitschmann with his novel „Erziehung eines Helden“ (Aisthesis, 2015), which was believed to be lost and banned in the GDR – wanted to enter the literary stage of the GDR in a brilliant way. „Die Denunziantin“ provides first-hand evidence of how Brigitte Reimann dreamed of socialism.
Brigitte Reimann began the original version of „Die Denunziantin“ in 1952 and completed it in 1953. This book, her first novel, was supposed to be her memorable step onto the literary stage, but it failed. The GDR publishers did not print it. The main character of Eva Hennig was too individualistic, too dazzling; simply not worthy of a convinced socialist heroine, was one of the many reasons given.
The first edition now available is the original version that Brigitte Reimann herself held closest to her heart. It is authentic in the language, style and political attitude of the then convinced FDJ member and new teacher and at the same time a revealing contemporary document of everyday life in the GDR in the 1950s and of the author's earliest creative phase.
The novel was almost forgotten in the archive drawers of literary history. But only almost.

INHALT

Die Denunziantin

Anhang
Nachwort
Editionsgeschichte
Fassungsvergleich
Quellenverzeichnis mit Inhaltsangaben
Editorische Anmerkungen
Zu den Illustrationen
Biografie Brigitte Reimann

LESEPROBE

1. Kapitel

Immerhin war dieser 19. Februar 1951 ein Fest- und Feiertag für die beiden, den Jungen und das Mädchen, die da im S- Bahnzug durch Berlin gondelten und Sahnebonbons lutschten, die einem immer so eklig in den Zähnen kleben blieben, daß man sie kaum wieder rauskriegte, ohne daß man auf allen Anstand pfiff und die Finger als Zahnstocher benutzte.

Vor einem Fahrplan standen sie, studierend, denn beide kannten sich nicht gerade allzu gut aus in den Verkehrslinien der Weltstadt, die in diesen Jahren wieder das wurde, was sie früher gewesen war. Besonders das Mädchen starrte hilflos auf die verschlungenen Linien des Planes – sie war sowieso ziemlich kurzsichtig, man sah es an den angestrengt zusammengekniffenen Lidern –, während der blonde Hüne neben ihr bedeutend weltmännischer suchte und fand.

Sie mußte zu ihm aufschauen, als sie den schwarzhaarigen Kopf hob: „Ich finde mich einfach nicht durch, Klaus.“ „Laß man, Mäuschen“, brummte Klaus, „ich hab’s schon“, wo- bei er wütend versuchte, mit der Zungenspitze das verfluchte Sahnebonbon aus den Zähnen rauszupulen. „Friedrichstraße umsteigen, bis Warschauer Brücke – das ist, glaube ich, die dritte – warte mal, die erste, zweite –, dritte Haltestelle nach dem Alex. Na, und von da weiß ich dann schon weiter.“ Etwas gönnerhaft: „Ich bringe dich schon sicher zu deiner Tante, Eva.“ Klaus griff Eva unters Kinn, sah in die eigenartig schräggeschnittenen schwarzen Augen. In Berlin durfte man das so einfach in aller Öffentlichkeit. In Berlin durfte man noch ganz was anderes, was in der kleinen Heimatstadt verpönt war: man durfte sich am hellen Tage einhaken und so durch die Straßen bummeln, während zuhause dieses Recht eigentlich nur die Verlobten oder wenigstens die So-gut-wie-Verlobten hatten. Jedenfalls fanden das alle Muttis, und „wenn ihr auch noch so fortschrittlich seid, ein bißchen könnt ihr euch doch noch nach der guten alten Sitte richten, nicht wahr?“

Man sah das ein, benahm sich daheim sehr brav und tugendhaft und holte alles Versäumte nach, sobald man einmal in eine andere Stadt entflohen war und wußte, daß einem hier keiner zuguckte. Am schönsten war es in dieser Beziehung in Berlin, fanden Klaus und Eva. Man hätte sich hier in der S-Bahn direkt beinahe einen Kuß geben können, denn die Lampen an der Decke wurden manchmal ganz trübe, und die wenigen Leute, die auf den hellen Bänken saßen, pennten auch halb, weil es schon so spät in der Nacht war. Natürlich trauten die beiden sich trotzdem nicht, aber sie standen eng aneinandergeschmiegt und hielten heimlich ihre Hände gefaßt.

Das Mädchen sah noch immer zu seinem Freund auf, lächelnd aus den schrägen Augen. „Kleiner Mongole“, sagte der große Junge zärtlich. „Weißt du noch – heute vor einem Jahr?“ Klar wußte sie. Erstens hatten sie sich heute schon oft genug an ihr Jubiläum erinnert, und zweitens – den Tag würde sie nicht vergessen, bestimmt nie. Heute vor einem Jahr hatte Klaus ihr den ersten Kuß gegeben. Wenn das nicht ein Grund zum Feiern wäre –

„Weißt du noch“, fing Eva an, „du konntest und konntest dich einfach nicht dazu aufraffen – ich hab’s doch gemerkt.“ Klaus nickte. Ja, ganz genau wußte er noch, was für eine schreckliche Angst er ausgestanden hatte, als er mit ihr damals durch die Kastanienallee gebummelt war und er sich unter jedem Baum vorgenommen hatte, daß er sie unter dem nächsten aber ganz todsicher küssen würde. Aber er brachte und brachte es nicht fertig. Und dann waren sie aus der Kastanienallee raus und nun würde bald Evas Haus auftauchen und sie würde sich von ihm verabschieden wie seit drei Wochen jeden Abend – und wieder würde er in seinem Zimmer rumwüten und sich einen Feigling und Dummkopf schimpfen. Denn er war schrecklich verliebt. Na, und dann kamen sie zu der historischen Ecke von Evas Gartenzaun, wo man noch nicht im Licht der schmiedeeisernen Ampel über der Haustür stand, und da hatte Klaus nur gesagt: „Du, Eva.“ Ganz heiser war er vor Aufregung und Angst gewesen, er könnte es nicht richtig machen, denn er hatte vor ihr noch kein Mädchen angeguckt. Als Eva ihn dann ansah, da hatte Klaus sie eben mitten auf den Mund geküßt – hart, knabenhaft und schrecklich ungeschickt. Eva war nur ziemlich verblüfft und wußte trotz ihrer sonstigen Gewandtheit nicht, was sie im Augenblick Passendes sagen sollte, denn Klaus war ihr bis dahin nicht viel mehr gewesen als jeder andere Klassenkamerad. Eva hatte auch gar nicht recht gewußt, ob sie ihn nun auslachen oder still gerührt sein sollte, wie sich das eigentlich gehörte. Zum Glück waren sie schnell weitergegangen und hatten sich vor der Tür nur schweigend die Hand gegeben.

Von da an aber waren sie beide unzertrennlich und wurden bald in der ganzen Penne mit verständnisvollem Grienen als „Ehepaar Hoffmann“ registriert. Wo der eine auftauchte, konnte man getrost darauf wetten, daß der andere auch nicht weit sei. Und das Küssen hatte der Klaus auch schnell richtig gelernt. Feine Tricks hatten sie sich ausgedacht, um der Aufsicht von Mutti Hoffmann zu entfliehen, wenn sie nachmittags bei Hoffmanns im Wohnzimmer saßen und Schularbeiten machten. Gerade wenn Eva dem Klaus „amare“ und die schwache Konjugation abhörte, fiel Klaus plötzlich ein, daß er ausgerechnet jetzt unbedingt wissen müßte, was „coniuratio“ oder „mandare“ oder sonstwas heiße. Eva war’s im Augenblick auch entfallen, Mutti Hoffmann wußte es erst recht nicht – ja, da mußten sie eben im Wörterbuch nachgucken. Das lag aber leider in Klaus’ Zimmer, so daß sie erstmal da hingehen und das Wort suchen mußten. Na, und so schnell findet man das ja auch nicht immer, nicht wahr? In sinnvollem Wechsel waren es auch manchmal das Radioprogramm oder irgendein ungeheuer wichtiges Buch, das sie zusammen unbedingt sofort suchen mußten.

Die beiden lachten sich vergnügt an, als sie jetzt an ihre Heimtücke dachten, und sie freuten sich in sehr unartiger Weise noch nachträglich darüber, daß die Mutti Hoffmann trotz ihrer moralischen Argusaugen immer wieder prompt auf ihren frechen Schwindel reingefallen war.

Ein Jahr lang schon zusammen! Das will viel heißen bei jungen Leuten, und die beiden bewunderten sich auch schrankenlos wegen ihrer Ausdauer und Treue – wobei sie freilich im Augenblick vergaßen, daß Klaus seine Freundin erst vor wenigen Wochen abends mit einem anderen – noch dazu aus einer unteren Klasse! – im Vorgarten erwischt und ihn ohne Warnung mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte, daß der arme Bengel wochenlang mit einem dekorativen Pflaster über der Stirn durch den Schulflur lief und damit demonstrativ Evas Mitempfinden anrief, die aber inzwischen schon längst wieder reumütig zu ihrem Klaus zurückgekehrt war, dessen schlagkräftige Argumente gegen den andern ihr mächtig imponiert hatten. Der kleine Zwischenfall war schnell vergessen – wie sie sich überhaupt schnell mal zankten und dann sofort wieder vertrugen –, weil eben das Vertragen doch der angenehmste Teil war.

Klaus griff in die Tasche und bot Eva noch einen „Plombenzieher“ an (so hatten sie die Sahnebonbons getauft), während er ihr eröffnete, daß er sie – unter Garantie! – später mal heiraten würde, aber nur unter einer Bedingung. „Und die wäre?“ Eva nahm die Angelegenheit entschieden nicht ernst genug. „Ja, weißt du, wenn wir mal Kinder haben –“ „Haben wir nicht! Ich mache mir nichts aus Kindern.“ „Aber ich meine doch, wenn –“ Klaus hatte eine böse Falte zwischen den Brauen. Eva kannte das, lenkte ein: „Na, meinetwegen. Also, wenn wir nun Kinder haben, was ist denn dann?“ 

Jetzt wurde Klaus doch verlegen. Etwas unsicher: „Du mußt mir versprechen, daß wir das Mädchen Nelli taufen und –“ Eva hielt noch den Mund. „– und den Jungen Ödipus.“ Da verlor Eva doch die Fassung. „Ödipus – ich bitte dich!“ Mit aufreizend sanfter Besorgnis legte Eva Klaus die Hand auf die Stirn: „Und sonst fühlst du dich ganz wohl, oder –“

Ärgerlich schüttelte Klaus die Hand ab, packte sie zwischen seinen Fäusten, um Eva zur Strafe die Finger zu verrenken. Braunhäutig war sie, breit, fast eine Jungenhand, wären nicht die länglichen, gepflegten Fingernägel gewesen. „Au“, schrie Eva übertrieben laut unter dem derben Griff, daß auf der Nachbarbank ein dösender älterer Herr mißbilligend zu ihnen hinüberblickte, worauf Eva ihn mit strahlendem Lächeln so bezaubernd nett anschaute, daß er, verlegen, nicht wußte, wohin sehen.

„Olles kokettes Biest“, knurrte Klaus. Um alles in der Welt hätte er doch nicht gezeigt, was für Spaß es ihm immer machte, wenn er sah, wie die Freundin mit solchen alten Brummbären fertig wurde. Eva hatte das wirklich raus, wußte, daß sie mit ihren schönen Asiatenaugen mehr erreichte als mit langen Reden und Bitten.

„Ödipus und Nelli ...“ Genießerisch sprach Eva die Worte vor sich hin, so, daß man förmlich mitschmeckte, wie sie ihr auf der Zunge zergingen wie Mondaminpudding oder so. „Diese Klangfülle, diese Harmonie – und so modern ...“ Klaus sah Eva mißtrauisch an (weil er seine Kinder tatsächlich einmal so nennen wollte). Eva machte ein todernstes Gesicht. Plötzlich platzten beide raus und lachten trotz ihrer verpflichtenden 17 Jahre wie die Kinder – unbekümmert laut und albern. Eine verschlafene Frau fuhr aus ihrem Nickerchen auf. Der mißbilligende ältere Herr wagte gar nicht einmal mehr hinzusehen. Vielleicht dachte er, während die S-Bahn mit kreischenden Bremsen in die Halle des Bahnhofs Friedrichstraße einfuhr, daß zu seiner Zeit die Jugend sich nicht so benommen hätte, vielleicht dachte er aber auch, daß solche unverschämt schwarzen Augen eigentlich polizeilich verboten werden müßten – jedenfalls sah er den beiden nicht ohne Neid nach, die, noch immer kichernd und sich gegenseitig schubsend, aus dem Wagen sprangen und im Dunkel der Halle untertauchten.